Reportage (2012)
Stickig ist es. Die Luft geschwängert vom Schweiß der vielen Männer und von dem Zigarettenrauch, der vom Eingang hereinweht. Ein babylonisches Sprachgewirr wabert als ständige Grundmelodie monoton durch den länglichen Raum, an dessen Wand sechzehn Fernsehbildschirme nebeneinander aufgereiht sind. Hier trifft sich die ganze Welt, zumindest der männliche Teil davon. Gut hundert Männer, überwiegend türkischer, arabischer, afrikanischer und asiatischer Herkunft, auf der Suche nach dem Glück. Keine einzige Frau zu sehen, weit und breit. In der ersten Reihe sitzen grauhaarige alte Männer mit Halbglatze wortlos und apathisch vor den flimmernden Fernsehgeräten. Jeder trägt ein Poloshirt in einer anderen Farbe. Dahinter versammelt sich eine Gruppe Halbstarker in Muskelshirts, mit gegelten schwarzen Haaren und auffälligen Tatoos auf den gestählten Oberarmen. Im hinteren Teil des Raumes steht „Papa“, wie er von seinen afrikanischen Landsleuten genannt wird. Sein verschmitztes Lachen gibt eine Zahnlücke preis. Mit seinem schwarzen Hut, dem schwarzen Nadelstreifensakko und dem grauen Vollbart sticht er aus der Menge hervor. In gelöster Stimmung gestikuliert er und kommentiert die aktuellen Spielergebnisse. „Hamburg – Nürnberg 0:0“ zeigt einer der Bildschirme an.
Das Wettbüro in München-Zentrum ist eines unter vielen. Ab zwei Euro Einsatz ist Mann dabei. Die einzigen Frauen im Raum sitzen cool und mit ausdrucksloser Miene am Counter. Die vier Damen, alle um die Dreißig, besetzen je einen Schalter und unterhalten sich in einer osteuropäischen Sprache, wenn sie nicht gerade einen Kunden bedienen oder gelangweilt auf ihren Smartphones herumtippen. Sie sind die Herrinnen über die Männer und ihre Sucht. Hier kaufen die Spieler ihre Wettscheine, in der Hoffnung auf den Megagewinn. Bis zu 25.000 Euro könne man bei einer Live-Wette gewinnen, meint die eine. Auf die Frage, wie viel denn ein Spieler im Schnitt gewinne, wendet sie sich genervt ab.
Die Uhr an der Wand zeigt 16:10 Uhr. Manchester United schießt ein Tor gegen Fulham; kurzes Klatschen, es steht jetzt Eins zu Eins. Wie von der Tarantel gestochen schießt ein drahtiger Mann im türkisen Trainingsanzug an den Counter. Mit seiner Glatze, der randlosen Brille und dem graumelierten Dreitagebart erinnert er ein wenig an Phil Collins, nur hagerer. Pietro lebt seit dreißig Jahren in Deutschland. Mit Sport kenne er sich bestens aus, schließlich sei er selbst Sportler. Der gelernte Kampfsportler zockt seit er denken kann, wie er behauptet. Er war Trainer für Kickboxen und Kung Fu. Dann verlor er seinen Job. Wegen einer Schlägerei. „Ich bin Einzelgänger“, sagt Pietro in gebrochenem Deutsch: „Ich kenne hier niemanden, habe keine Freunde“. In der Welt der Zocker wirkt der agile Italiener allerdings keineswegs isoliert. Er ist eine der zentralen Figuren in dem Wettbüro. Wild gestikulierend diskutiert er mit seinem Tischnachbarn, einem Mann mit Igelfrisur – wie er um die Sechzig –, den Verlauf der Spiele.
Es ist jetzt 16:12 Uhr. Der FC Bayern schießt ein Tor gegen Greuther Fürth, lautstarker Jubel. „Da steht's Null zu Eins“, sagt der Kommentator. „Zu Eins“, wiederholt ein Araber mit einer Segmüller-Tüte in der Hand. Pietro überprüft mit angestrengter Miene seinen Wettschein, dann füllt er etwas aus. Nervös wackeln seine neon-leuchtenden Turnschuhe hin und her, während er an seiner Cola-Flasche nippt. Immer wieder holt er einen Zettel hervor und begutachtet ihn.
In der hinteren Ecke des Raumes sitzen ein paar schwere untersetzte Jungs in Trainingsanzügen lethargisch vor den Daddelautomaten. Daneben ein grauhaariger Mann im weißen T-Shirt, Mitte Sechzig. Wie ferngesteuert bedient er die Tasten des Spielautomaten, der ständig neue Zahlen und Bilder ausspuckt. Sein Verhältnis zu dem Automaten ist kompliziert: Immer wieder schlägt er auf ihn ein und beschimpft ihn wüst. Nervös holt er ein Bündel mit 50-Euro-Scheinen aus der Tasche seiner Jeans und zählt nach. Schließlich gibt der Mann frustriert auf, nicht ohne beim Herausgehen den Damen am Counter seinen Unmut kundzutun. „Der Automat ist ein Arschloch“, sind die letzten Worte, die man von ihm hört.
Es ist 16:35 Uhr. Manchester schießt das zweite Tor gegen Fulham, verhaltenes Klatschen. Wenig später schießt Freiburg das Eins zu Null gegen Mainz. Aufmerksam verfolgt „Papa“ das Geschehen. Jetzt überschlagen sich die Ereignisse: Manchester schießt in der 41. Spielminute das dritte Tor gegen Fulham. „Hey!“ ruft einer, lautes Klatschen. Wenig später schießt Bayern das zweite Tor gegen Fürth. „Ob die Fürther aus diesem Loch nochmal herauskommen, wage ich zu bezweifeln“, sagt der Kommentator.
Männer in Badelatschen schauen wie hypnotisiert auf die Bildschirme. Lothar Matthäus, in Anzug und Krawatte, grinst sie starr an. Pietro zählt sein Kleingeld, immer wieder rennt er ungeduldig mit einem Wettschein zum Counter. „Der ist noch nicht bewertet, müssen sie noch ein bisschen warten“, vertröstet ihn die Dame. Pietro schnauft. Er setzt sich wieder an seinen Platz und spielt nervös mit seinem Kugelschreiber. 400 Euro hat er in den letzten drei Tagen eingesetzt. Ob man wohl vom Zocken leben kann? „Ja klar“, sagt Pietro. Hier gewänne man mehr als beim Lottospielen. „17.000 Euro, 20.000 Euro, hab ich schon oft gewonnen“, behauptet er: „Da hast du schnell mal einen Sportwagen zusammen“. Aber die Meisten würden verlieren. „Viele, die hier sitzen, haben alles verloren: Haus, Arbeit, Familie“.
Heute hat auch Pietro verloren. Das Geld ist weg, alles nur wegen einem Tor. „Ciao ciao“, verabschiedet er sich von dem Mann mit der Igelfrisur, „bis morgen“. Der Mann mit der Igelfrisur bleibt alleine am Tisch zurück. Er zählt seine Geldscheine, zwei Fünfziger, ein paar Zwanziger und einige Zehner. Nervös wippt er mit seinen orangefarbenen Badelatschen. Er holt einen Kugelschreiber aus dem Plastikbecher, der vor ihm steht, und füllt einen neuen Wettschein aus.
Till Dziallas