Reisereportage
Erschienen in "Das aktuelle Spanienmagazin", April 2011
Lebendig und vielfältig, aber immer entspannt und ohne Hetze - das Leben der Sevillaner spielt sich auf der Straße ab, am Tag wie in der Nacht. Man sollte sich mindestens zwei Tage Zeit nehmen, um nicht nur die größten Sehenswürdigkeiten zu sehen, sondern auch die Idylle der Gassen und Innenhöfe, der Kirchen und Parks genießen zu können. Obwohl die Hauptstadt Andalusiens Spaniens viertgrößte Stadt ist, lässt sich die ganze Altstadt problemlos zu Fuß erkunden. Während es im Sommer erdrückend heiß sein kann, bietet der Frühling ein angenehmes Klima. Dies ist auch die Zeit, in der die zwei größten Volksfeste das Leben der Stadt für jeweils eine Woche bestimmen: Die Semana Santa im April und Anfang Mai die Feria de Abril.
„Quien no ha visto Sevilla no ha visto maravilla” lautet ein Spruch der Sevillaner über ihre Stadt: „Wer Sevilla noch nicht gesehen hat, hat noch nichts Wunderbares gesehen.”
Grund genug, sich selbst ein Bild davon zu machen. Mit dem Bus geht es Morgens in Málaga los, vorbei an endlosen Feldern mit Olivenbäumen, felsigen Hügeln, Pinienbäumen und Zypressen. Die Sonne scheint, als ich knapp drei Stunden später in Sevilla ankomme. Von dem Busbahnhof an der Plaza de Armas ist meine erste Station das nahegelegene Museum der schönen Künste an der schattigen Plaza Museo, die von einer großen Statue des berühmten sevillanischen Barockmalers Murillo bewacht wird. Das Museo de Bellas Artes befindet sich in einem ehemaligen Kloster des 17. Jahrhunderts und zeigt vor allem Werke der Sevillaner Malschule wie etwa von Zurbarán, Murillo oder Valdés Leal. Besonders der in Sevilla so verehrte Murillo steht mit seinem warmen und weichen Malstil, dem estilo vaporoso, für das barocke Lebensgefühl dieser Stadt.
Weiter geht es entlang der Calle Alfonso XII Richtung Zentrum, vorbei an der Plaza Duque de la Victoria, wo gerade ein hippiesker Schmuckmarkt ist, bis zur Plaza de la Encarnación. Hier, im Herzen der Stadt, befindet sich die wohl größte Baustelle Sevillas. Das gigantische Gebäude „Metropol Parasol“ soll zu einem „neuen Wahrzeichen der Stadt Sevilla“ werden.
Unter der Federführung des deutschen Architekten Jürgen Mayer H. ist eine Neukonzeption des zentralen Platzes auf vier Ebenen geplant. Das Untergeschoss soll zu einem offenen Museum werden, in dem archäologische Ausgrabungen gezeigt werden, aus der darüber liegenden Ebene soll eine Markthalle werden, darüber kommt eine Fläche für Veranstaltungen, ganz oben ist ein Café mit einem Panoramaweg geplant, von dem die Altstadt Sevillas betrachtet werden kann. Das Projekt soll Sevilla zu nationaler und internationaler Aufmerksamkeit verhelfen und der Stadt den Anschluss ans 21. Jahrhundert ermöglichen, wie Architekt Mayer betont: „Zum einen kann Sevilla hier zeigen, wir sind eine Stadt, die auf internationalem Niveau mithalten kann und die wirtschaftlich und kulturell innovationsfähig ist. Zum anderen soll auch der Tourismus angesprochen werden, der eine ganz wichtige Wirtschaftsbranche dieser Stadt ist.“ Kritiker sprechen hingegen von „architektonischen Giftpilzen“ und befürchten eine schleichende Zerstörung der historischen Altstadt mit ihrer romantischen Atmosphäre. Für mich ist es zu früh, mir ein Urteil dazu zu bilden, denn außer hohen Kränen und riesigen Gerüsten ist noch nicht allzu viel zu erkennen. Weiter geht es durch die wunderschön verschlungenen und engen Gassen Richtung Kathedrale. Plötzlich stehe ich auf einem Platz, dicht gedrängt mit Menschen, die sich, ein Glas Wein oder Bier in der Hand, angeregt unterhalten. Eine richtige Samstagabend-Stimmung zur Mittagszeit, was wieder einmal zeigt, dass sich in Sevilla das Leben auf der Straße abspielt. Weihrauchduft liegt über der Plaza del Salvador, zwischen deren Cafés und Bodegas die Sevillaner das Wochenende einläuten.
Ich bahne mir einen Weg durch das Getümmel und stehe ein paar Gassen weiter schließlich vor dem Ayuntamiento, dem großen gotischen Rathaus aus dem 16. Jahrhundert. Zeit für ein paar Tapas in einer Bodega, denn der Tag ist noch lang. Ein paar Schritte weiter geben drei junge Männer Flamenco-Lieder zum Besten, während leuchtend gelbe Pferdekutschen den Weg zur Kathedrale weisen.
„Lasst uns eine Kirche bauen, die so groß ist, dass uns die Nachwelt für verrückt erklärt“ soll ein Kirchenoberer gesagt haben, dessen Vorschlag die Bauherren der Kathedrale von Sevilla im 15. Jahrhundert gefolgt sind, und den größten gotischen Kirchenbau der Welt errichteten. Die Kathedrale wurde, wie es häufig in der Geschichte Andalusiens der Fall war, anstelle einer Moschee errichtet, von der heute noch der Orangenhof und die Giralda übrig sind. Die Giralda, ein ursprüngliches Minarett aus dem 12. Jahrhundert, ist zusammen mit dem Goldturm eines der beiden großen Wahrzeichen der Stadt. Während seines Umbaus zum Glockenturm im 16. Jahrhundert wurde dem Minarett eine Spitze im Renaissancestil aufgesetzt, die wiederum von einer vier Meter hohen Figur mit Palmenzweig und Standarte gekrönt wurde, die sich in 93 Metern Höhe im Wind dreht. Dieser Giraldillo (von girar, spanisch für drehen) gab der Giralda ihren Namen. Der Weg auf den Turm belohnt mit einer überwältigenden Aussicht über den Dächern der Stadt. Der Blick schweift über die grünen Gärten der Alcázares, den Fluss Guadalquivir, die Plaza de Toros, bis zu den Rändern der Stadt, deren Ausdehnung erst von hier oben deutlich wird. Ein Tourist, der direkt unter der Glocke steht, macht vor Schreck einen großen Sprung, als diese plötzlich zu läuten beginnt.
Wieder unten angelangt geht es nach einem Weg durch den malerischen Orangenhof zu Füßen der Kathedrale weiter zu den berühmten königlichen Palästen, den Reales Alcázares, die als das Schönste gelten, was der Mudéjar-Stil hervorgebracht hat. Dieser im Spanien des 14. Jahrhunderts zur Blüte gelangte Kunststil vereinigt abendländische mit maurischen Stilelementen. Die königlichen Paläste ließ Fürst Peter der Grausame im 14. Jahrhundert für sich und seine Geliebte María de Padilla errichten. Baumeister waren Mauren, die von nasridischen Herrschern aus Granada gesandt wurden. Am berühmtesten ist der Botschaftersaal (Sala de Embajadores) mit seiner kunstvoll dekorierten Gewölbedecke. Doch allein in den Gärten, die sich hinter dem Bauwerk befinden, könnte man einen ganzen Tag verbringen. Eine Oase der Ruhe, mitten in der Stadt, umgeben von 30 Meter hohen Palmen, vollreifen Orangen- und Zitronenbäumen. Tauben gurren in den Baumwipfeln, Pfauen schreiten durch den Park, Enten baden in den Springbrunnen und eine Katze liegt auf der Lauer. Neben einem Springbrunnen im Jardín de las Damas ist ein Schild angebracht, auf dem „La Fuente Órgano“ zu lesen ist. Diese Springbrunnen-Orgel wurde im 17. Jahrhundert erbaut, durch einen komplexen Hydraulikantrieb bringt das Wasser die Orgel zum klingen, die, wie dem Schild zu entnehmen ist, eine der letzen drei dieser Art in ganz Europa ist. Zu jeder vollen Stunde geht der Springbrunnen an und eine märchenhafte Melodie ertönt, die einen in eine längst vergangene Zeit versetzt.
Als die Besucher gegen 18 Uhr hinauskomplimentiert werden, entschließe ich mich zu einem Spaziergang durch das an die Paläste angrenzende Barrio de Santa Cruz, das mit seinen verwinkelten Gassen eine ganz eigene Atmosphäre ausstrahlt. Hier kann man sich ganz ohne Stadtplan treiben lassen – zurück findet man immer, dank der hohen Giralda, die alle Dächer überragt und in der ganzen Stadt als Orientierungspunkt dient.
Der Abend soll dem Flamenco gehören, wenn ich schon einmal in der „Hauptstadt des Flamenco“ bin. Im Gegensatz zu den teuren Flamencoshows für Touristen kommen in die Carbonería nördlich des Barrio de Santa Cruz auch viele Einheimische. Das in diversen Reiseführern und Internetforen als „absoluter Insidertipp“ beworbene Lokal versteckt sich in einer kleinen Gasse und ist nur durch seine rote Tür zu erkennen, die jedoch geschlossen ist, als ich gegen 21 Uhr dort aufkreuze. Zurück im Hotel sagt mir die Dame an der Rezeption, dass die Vorführungen dort erst um 23 Uhr beginnen. Wie ich gehört hatte, kann es sehr voll werden. Als ich pünktlich zur besagten Zeit zurückkomme, steht nur ein halbes Dutzend Menschen vor der Tür. Ich riskiere einen Blick nach drinnen und befinde mich in einem stilvoll eingerichteten Raum, der jedoch nur als eine Art Vorzimmer fungiert. Dahinter liegt ein großer dunkler Saal, dessen hinterer Teil mit Stühlen ausgestattet ist. Und tatsächlich – der „Insidertipp“ ist brechend voll. Mit etwas Glück kann ich noch einen Stehplatz an der Bar ergattern und bestelle mir ersteinmal einen Tinto de Verano. Wenig später betreten eine Tänzerin, ein Sänger und ein Gitarrist unter großem Applaus die Bühne. Was folgt ist keine anbiedernde Show, sondern spontan dargebotener und authentischer Flamenco, der wieder ein Sevilla vergangener Tage erahnen lässt. Nach einer guten Stunde ist das begeistert beklatschte Konzert vorbei und die Menge strömt hinaus in die Nacht von Sevilla, die mit ihren unzähligen Bars und Kneipen gerade erst angefangen hat...
Das Konzert motiviert mich, mehr über den Flamenco zu erfahren. So entschließe ich mich am nächsten Tag, das Museo del Baile Flamenco zu besuchen, das sich in der Altstadt befindet, nur wenige Minuten von der Kathedrale entfernt. Gegründet wurde das Flamencomuseum 2006 von der berühmten Choreographin und Flamenco-Tänzerin Christina Hoyos. Das besondere an diesem Museum ist, dass es neben Ausstellungen auch Tanzkurse und Flamencovorstellungen bietet. Jeden Abend können Besucher 20 minütige Schnupperkurse bei einer professionellen Tänzerin nehmen, die anschließend selbst auftreten wird. Der erste Saal des Museums befasst sich mit den Ursprüngen und verschiedenen kulturellen Einflüssen des Flamenco-Tanzes. Der zweite Saal stellt die „Palos“, die verschiedenen Stile des Flamenco vor. Simone, die mich durch die Räume führt, erklärt: „Es gibt sieben verschiedene Arten von Flamenco, alle Arten entsprechen einem bestimmten Gefühl. Man kann sehr viel aus den Gesichtern, Kleidern und Bewegungen herauslesen.“ Jede dieser Bewegungen hat eine spezielle Bedeutung, die Bandbreite reicht von „Alegría“ (Fröhlichkeit), über „Bulerías“ (Verführung) bis zu „Seguirya“ (Schmerz und Tod). Der nächste Saal illustriert die Entwicklung des Flamenco, von den Familienfesten in den Innenhöfen bis zu den großen Theater- und Kinoproduktionen. Mit den berühmten Tänzerinnen und Tänzern befasst sich der vierte Saal, im fünften Saal ist eine große Installation von Christina Hoyos zu sehen. Außerdem wird eine Kollektion der Fotografin Colita gezeigt, die Schwarzweiß-Bilder beschäftigen sich vor allem mit Antonio Gades und Christina Hoyos, dem „Traumpaar des Flamencotanzes“. Ergänzt wird das Museum durch wechselnde Ausstellungen verschiedener Künstler, auch Workshops für Kinder werden angeboten. Zur bald stattfindenden Feria de Abril wird es wieder Vorbereitungskurse für die „Sevillanas“ geben, die beliebten Gruppentänze, die dort jedes Jahr gefeiert werden.
Nach dieser interessanten und aufschlussreichen Führung mache ich einen Spaziergang zur Plaza de España inmitten des Parkes María Luisa. Der Platz wurde 1929 eigens für die Iberoamerikanische Ausstellung angelegt und ist bis heute ein beliebter Ort, den die Sevillaner am Wochenende aufsuchen. Die Außenwände des beeindruckenden halbrunden Baus sind mit Kacheln versehen, auf denen Szenen aus der Geschichte der 50 spanischen Provinzen dargestellt sind, die hier ihre Pavillons hatten. Ein Wassergraben durchzieht den Platz mit mehreren keramikverzierten Brücken, unter denen kleine Ruderboote hindurchfahren. Ein Reiseführer beschreibt die eigenartige Atmosphäre dieses Platzes als „unwirklich wie eine Filmkulisse“, und tatsächlich diente er im Kinofilm „Star Wars: Episode II“ als Schauplatz des Planeten Naboo.
Langsam trete ich meinen Rückweg an, am Ufer des Guadalquivir entlang, dem längsten Fluss Andalusiens. Immer wieder kommen Kanufahrer vorbei, 2002 fand hier die Kanu-Weltmeisterschaft statt. Die Uferpromenade führt mich schließlich zum Torre del Oro, dem Goldturm, der neben der Giralda ein Wahrzeichen Sevillas ist. Im Jahr 1220 wurde er von den Almohaden als zwölfeckiger Wehrturm errichtet. Auf der anderen Seite des Ufers befindet sich das alte Hafen-, Handwerker- und Zigeunerviertel Triana, das eine große Rolle in der Geschichte des Flamenco gespielt hat.
Mein Rückweg führt, vorbei an der großen Plaza de Toros, wieder in das Zentrum, zur Plaza de la Encarnación, von wo ich entlang der Calle Alfonso XII zurück zum Busbahnhof laufe. Erschöpft aber glücklich kann ich mich nun den Sevillanern in der Gewissheit anschließen, etwas „Wunderbares“ gesehen zu haben.
Till Dziallas